Politik und Musik - von und mit Stephan Eisel

Politischer Konsens und musikalische Harmonie

Musik und Politik in einem Atemzug – fast geht eine Schreckstunde der Annäherung an das Thema voraus. Aber was auf den ersten Blick zwei völlig verschiedene Welten zu sein scheinen, ist tatsächlich durch ein vielfältiges Beziehungsgeflecht miteinander verbunden. Dies mag sich einerseits aus der Selbstverständlichkeit erklären, dass auch Musik nicht sozusagen im luftleeren Raum stattfindet, sondern mit bestimmten historischen und politischen Bedingungen konfrontiert ist und darin wächst. Andererseits weckt Musik mit ihrer emotionalen, schwer erklärbaren, aber eben immer wieder erfahrbaren Ansprache der Menschen offenkundig auch politische Begehrlichkeiten.

Auffällig ist jedenfalls die Vielzahl der Verbindungen, die sich schon auf den zweiten Blick zwischen den beiden einander scheinbar so fremden Bereichen erschließen. Es scheint sogar einen verblüffenden Gleichklang in der Entwicklung von Musik und Politik zu geben. Diese Kongruenz lässt sich in der politischen Ideengeschichte wie in der Geschichte der Musiktheorie festmachen am Begriff der Harmonie, der – um es in den gängigen Worten von Meyers Konversationslexikon zu sagen – die „wohlgefällige Übereinstimmung der Teile eines zusammengesetzten Ganzen“ beschreibt.

Die Frage nach solcher Übereinstimmung im staatlichen Gemeinwesen durchzieht die gesamte politische Ideengeschichte. Schon im 7. Jahrhundert v. Chr. Findet sich bei Solon im Zusammenhang mit der Beschreibung des öffentlichen Lebens der Begriff der guten Ordnung (eumonia). Auch Sokrates nannte Eintracht (homonia) das höchste Gut der Polis; Platon, Aristoteles und viele andere griechische Philosophen beschäftigten sich mit dem Problem.

Die Suche danach, wie die für die Existenz jeder Gemeinschaft notwendige Übereinstimmung zwischen ihren Gliedern beschaffen sein müsse, verband sich dann immer mehr mit dem Konsensbegriff. Er spielt in den Überlegungen der Staatsphilosophen von Cicero über Thomas von Aquin und Marsilius von Padua, Jean-Jacques Rousseau und John Locke bis zu den Antipoden in der moderneren deutschen Diskussion Ernst Fraenkel und Carl Schmitt eine wichtige Rolle. Dabei sind erhebliche Differenzen im Verständnis des Konsensgedankens zu konstatieren: Die Forderung nach völliger Übereinstimmung in der Tradition von Platon und Rousseau – aktualisiert im Totalitarismus – ist nämlich unvereinbar mit dem Modell freier Zustimmung, gegründet auf die Ideen von Aristoteles und Locke – aktualisiert in der Pluralismustheorie.

Die moderne Demokratietheorie findet in der Anerkennung des Konsensgedankens und seiner sinnvollen Begrenzung auf einen Minimalkonsens ein wesentliches Fundament: Weil zuviel Konflikt den Zusammenhalt jeder Gesellschaft gefährdet, ist Konsens unverzichtbar, weil aber zu hohe Konsenserwartungen Freiheit und Vielfalt bedrohen, muss die unbedingt zu fordernde Einigkeit aller auf ein Minimum an Unstreitbarem begrenzt sein.

Die Ambivalenz des Konsensgedankens in der politischen Ideengeschichte spiegelt sich in gewisser Weise in der Ambivalenz des Harmoniebegriffs in der Musikgeschichte wider. Die gesamte Kunsttheorie wird durchzogen von einem Schönheitsideal, dem das Aufeinander-abgestimmt-Sein zugrunde liegt. In der Musiktheorie hatte zu Beginn des 6. Jahrhunderts vor allem Boethius dazu beigetragen, dass besonders Musik und allgemeine Harmonie als Synonym verstanden wurden. Er schrieb in seinem Buch De institutione musica: „Es gibt drei Arten von Musik: a) Die Musik des Weltalls (musica mundana), an den Dingen zu erkennen, die im Himmel selbst, in der Zusammenfügung der Elemente oder in der Verschiedenheit der Zeiten wahrzunehmen sind. B) Die menschliche Musik (musica humana) sieht jeder ein, der sich selbst einen Blick tut. C) Die „musica instrumentalis“ ist die, von der man sagt, sie bestehe in gewissen Instrumenten.“

Diese Theorie wurde dann beispielsweise Ende des 9. Jahrhunderts von Hroswitha von Gandersheim und im 14. Jahrhundert von Dante, dem Komponisten Guillaume de Machaut und den Meistern der Ars nova der Renaissance aufgegriffen. In der beginnenden Mehrstimmigkeit wurde so Musik als „geordnete Bewegung“ verstanden. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts belebte Johannes Kepler den Gedanken wieder, als er in seinem Hauptwerk Harmonie mundi einen Zusammenhang zwischen Planetenbewegung und Musik festzustellen glaubte: „Es ist am Himmel auf zweifache Weise, gleichsam in den beiden Tongeschlechtern, die Tonleiter oder das System einer einzigen Oktave ausgedrückt mit allen Stufen, durch die sich die Musik und der natürliche Gesang bewegt.“ Darauf bezog sich später unter anderem Paul Hindemith.

Es sei hier auch die klassische Definition der Musikwissenschaft in Erinnerung gerufen, die Musik als ein Ordnungsgefüge von Tönen versteht, welche in gehörmäßig erfassbaren Relationen zueinander stehen. Dabei engte die Musiktheorie, das heißt namentlich die Harmonielehre, zunächst die erlaubten Tonkombinationen streng auf das beim Hören „Angenehme“ ein: Harmonie als Korsett für künstlerische Freiheit. Bei den Griechen benannte Harmonie in der Musik – Werke, die den Begriff im Titel führen, sind beispielsweise von Aristoxenos, Ptolemäus und Aristidis überliefert – noch die aufeinander abgestimmte Tonfolge innerhalb von Skalen.

Im heutigen Sinne des Zusammenklingens wurde das Harmonieverständnis von Gioseffo Zarlino grundgelegt, der mit seiner Abhandlung Istituzioni harmoniche im 16. Jahrhundert ein erstes Lehrbuch zu Dur und Moll vorlegte. Zu nennen wären in dieser Tradition dann zahlreiche Theoretiker von Jean Philippe Rameau im Zeitalter der Aufklärung bis zu Hugo Riemann zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch ebenso wie in der politischen Ideengeschichte dem Konsensgedanken mit zunehmender Bedeutung auch Grenzen gesetzt wurden, da man seine Ambivalenz erkannte, wurde der Harmoniebegriff in der Musikgeschichte immer offener.

Inzwischen ist die Zeit der klassischen, allgemeinverbindlichen Harmonielehren für das kompositorische Schaffen längst vorbei. Schon bei Richard Wagner und in den Spätwerken von Franz Liszt deutete sich an, was Gustav Mahler, Claude Debussy, Maurice Ravel, Alexander Skrjabin und andere in ihrem Schaffen vorbereiteten und Joseph Matthias Hauer, Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Olivier Messiaen und andere im 20. Jahrhundert mit je unterschiedlichem Ansatz theoretisch zu strukturieren suchten: Die Erweiterung und Entdogmatisierung – im doppelten Wortsinne also „Aufhebung“ – des klassischen Harmonieverständnisses, ohne es als historisches Fundament aufzugeben. So belegt die Geschichte der Harmonielehre und die tatsächliche Entwicklung des kompositorischen Schaffens, wie sich innerhalb der Musik zunächst Unerlaubtes und Regelfremdes später dann doch etablieren konnte.

Damit hatten sie sozusagen innermusikalisch ähnliche Entwicklungen vollzogen wie in der politischen Ideenwelt: Harmonie und Konsens standen wohl gleichermaßen in der Gefahr, zu einengenden und einschnürenden Korsetts zu werden, und bewährten sich dann, als sie neuer Freiheit Halt geben konnten. Wo die Konsensidee zur Totalität neigte, wurde sie ebenso zur Gefahr für die politische Freiheit, wie ein nur noch verharrendes musikalisches Harmonieverständnis die Weiterentwicklung von Musik verhindern konnte.

Aber obwohl sich ein gemeinsamer Trend zu Freiheit und Vielfalt als roter Faden in der musik- und politikgeschichtlichen Entwicklung benennen lässt, kann von einem harmonischen Verhältnis zwischen Politik und Musik nicht die Rede sein. Bestimmend für das Verhältnis Musik-Politik ist kaum das gleichberechtigt verbindende „und“, dieses Beziehungsgeflecht ist besser charakterisiert durch „gegen“ oder „für“, durch „trotz“ oder „wegen“. Schon seit alters ließen sich politische Herrscher gerne mit wohlfeilen Klängen huldigen und verbannten rigoros, was ihren Ohren wie Misstöne klang. Musiker andererseits suchten die Anerkennung der Mächtigen und ihr Mäzenatentum ebenso häufig, wie sie sich von ihnen in die innere oder äußere Emigration getrieben sahen.

Wo Musik Politik beeinflusst, geschieht dies – wenn überhaupt – meist eher versteckt und allenfalls als Verstärkung. Lautstark und unbekümmert ist hingegen oft die Dominanz, die sich Politik über Musik anmaßt – sei es durch Zensur oder in der mit mehr oder weniger sanftem Druck geforderten Auftragshuldigung. Dass sich dem Einheitspostulat und dem Ideologieprimat verschriebene politische Macht gegenüber Musik und ihren Schöpfern in totalitären Staaten besonders penetrant gebärdete, überrascht dabei nicht. Was totalitärer Zugriff wirklich bedeutet, wie sehr Ideologie alle Sinne in ihren Bann schlagen und verwirren kann, musste Paul Hindemith im nationalsozialistischen Deutschland ebenso erfahren wie Dimitri Schostakowitsch in der kommunistischen Sowjetunion.

Die Musikgeschichte ist reich an Beispielen für all dies. Die vorliegende Abhandlung will dazu keine erschöpfende Darstellung geben, sondern schlaglichtartig Beziehungen ausleuchten, die auf den ersten Blick nur selten vermutet werden. Die Dominanz des Politischen wird dabei auch dadurch deutlich, dass sich nur selten innermusikalische Kriterien finden lassen, die Politik zum Eingreifen veranlasste oder Musik zur Dienerin machte. Meist ist nicht die Melodie ausschlaggebend, sondern das von ihr transportierte Wort, nicht die gewählte Tonart, sondern die Persönlichkeit des Komponisten. Wo dennoch das rein Musikalische die Beziehung zur Politik bestimmt, geschieht dies deswegen, weil Neues und Ungewohntes Misstrauen und Abwehr hervorrufen. Bachs für seine Zeit revolutionäre Orgelimprovisationen oder die Zwölftonmusik haben solche Reaktionen ja nicht nur bei den Mächtigen, sondern bei fast allen Zuhörern hervorgerufen. Die jeweils gültigen Harmonieregelen waren eben in hohem Maße von den Hörgewohnheiten abhängig.

Zu versöhnen sind Musik und Politik wohl nur durch die Idee der freiheitlichen Demokratie, die der Freiheit der Kunst wie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland den nötigen Respekt zollt und Schutz gewährt. Nur vor einem solchen Wertehintergrund hat auch das Neue eine faire Chance. Wer in Freiheit lebt, mag dies für selbstverständlich halten, worin eine nicht zu unterschätzende Gefahr liegt – für das Politische wie für die Kunst. Es ist mehr als eine erwünschter Nebeneffekt, wenn die folgende Abhandlung in Erinnerung ruft, wie schmerzlich der Verlust der Freiheit sein kann und wie demütigend die Anbiederung an Willkür und unkontrollierte Macht.